Chrono Bio Logik
oder der Versuch, ein Zahnrad nicht zu überhören, das dem Räderwerk unerahnte Vielfalt der Interaktion gestattet
ich über mich
Geboren 1963 in Wien, in eine durchschnittliche, gleichermaßen durchschnittlich männlich-chauvinistische, grob- und kleingeistige, amusische und lieblose wie empathiefreie Kleinbürgerfamilie, die sich durch redundanten Fleiß und ideelles Desinteresse über Jahrzehnte hinweg aus der Kaiserzeit in die Mittelschicht gedient hat.
Aufgewachsen im Westen der Stadt, in einem gemäß anwohnerlicher Selbstauskunft nobel beleumundeten Bezirk, der in seiner inharmonischen Tristesse immer an die großen und schönen Zeiten biedermeierlicher Idylle erinnern wollte, aber nie anderes als das gelebte Prekariat der sozialen Umstürze eines gesamten Jahrhunderts repräsentieren konnte.
Ein Kind, das früh durch sein Sprech- und Sprachtalent aufgefallen ist, schnell schreiben und noch schneller lesen gelernt hat, das sich aber auch schon früh in der ihm entgegengebrachten Ignoranz und Skepsis verschüttet, ohne Resonanz und fremd fühlt, und das die Welt des Erlesenen und Erdachten ihm zugewandter als das es umgebende Marionettentheater erlebt.
Ein Kind, das lieber mit sich ist, nur weit weg von daheim Unbefangenheit spürt und die phantasielose Gereiztheit seiner Eltern nie verstehen wird.
Ein Kind, bei dem eine unheilbare Augenerkrankung diagnostiziert wird und das ohne nennenswerte Unterstützung in der Familie mit den psychischen, praktischen und sozialen Auswirkungen dieses Umstandes sich selbst überlassen bleibt.
Ein Gymnasium, das dem Heranwachsenden trotz aller Dissonanzen Bestätigung, Förderung und Verständnis unter Gleichgesinnten geben kann.
Ein Pubertierender, der in der Welt sprechender Bücher und im radiophonen Kosmos Kunst erfährt, früh mit der Welt der Literatur, des Jazz, der Avantgarde des 20. Jahrhunderts, historischer und ethnischer Musiken und der Energie des Rock konfrontiert wird, und der die drängende diffuse Sehnsucht, sich ähnlich kreativ ausdrücken zu wollen, lange Zeit unerfüllt in sich trägt.
Ein Jugendlicher, der durchsetzt, Gitarreunterricht gestattet zu bekommen, nicht die ihm zugedachte Laufbahn eines subalternen Beamten sondern ein Musikstudium beginnt und schließlich die Mächtigkeit der Klänge und Worte begreift, die er selbst und mit seinem Instrument imaginieren kann.
Ein junger Erwachsener, der in mühevollen Versuchen kein Ventil finden wird, seine kreativen Fantasien in adäquate kreative Äußerungen zu transformieren, und der sich in vielen seiner Projekte unglücklich und nicht als er selbst fühlt.
Ein wesentlich älterer Erwachsener, der nach unzähligen Hörerlebnissen begreift, dass er sich in seiner transformierten Hörerfahrung exponieren darf, nur so der eigenen Befangenheit entkommen kann, und aus der Kulisse Thomas Bernhards vor den Vorhang Pierre Schaeffers und Friedrich Knillis tritt.
siehe ausführliche Biografie
Das Hören
Das Hören als Erfahrung sinnlicher Wahrnehmung ist in der Hauptsache die neurophysiologische Reaktion auf eine Störung im Kontinuum des Hörmediums. Dieses, im Fall der Spezies Mensch nahezu ausschließlich die Luft, selten auch das Wasser, wird aus dem Zustand der Ruhe, der geringstmöglichen Energie, in den der Unruhe, also in mehr oder weniger periodische und mehr oder weniger heftige Bewegung versetzt. Die Ursache einer konkreten Störung kann sich „Hörenden“ erschließen, oder ihnen auch gänzlich verborgen bleiben. In jedem Fall kann weder das eine noch das andere auf direktem Weg geschehen.
Eine komplexe kognitive Anstrengung ist erforderlich, um eine zugrundeliegende Störung im Medium als plausible Empfindung rezipierbar zu machen.
Das gestörte Medium selbst, das die Auswirkungen der Störung über oft große Distanzen als „Schall“ zu transportieren imstande ist, kennt jedoch keine emotionalen Zuordnungen zu „uns Hörenden“ vertrauten Kategorien wie „angenehm“ oder „unangenehm“. Es kennt nur Zustände schwankender Dichte und deren zeitlichen Verlauf. Es bleibt ein Neutrum, während die Interpretation des Verlusts der Kontinuität im Medium bekanntermaßen auf Seiten der „Hörenden“ häufig zu wenig neutralen Reaktionen auf ihre ureigenen individuellen und zutiefst subjektiven Ergebnisse kognitiver Verarbeitungsprozesse in ihrem eigenen Körper durch ihr eigenes Gehirn führt.
Dies mag in manchen Fällen stammesgeschichtlich herleitbar sein und evolutionspsychologisch verständlich erscheinen.
Doch, so meine ich, sollte es das persönliche Bestreben aller „Hörenden“ sein, ein möglichst hohes Maß an Ambiguitätstoleranz zu entwickeln.
Unbekannte, sozusagen fremdartige Störungen im Medium mögen in „Hörenden“ entsprechende, im Sinne der Evolutionspsychologie als dem Stammeserhalt abträglich zu klassifizierende und somit als bedrohlich und VER-störend zu interpretierende Ereignisse evozieren.
Doch kann man in diesem Zusammenhang bedenkenlos voraussetzen, dass tatsächlich die Spezies Mensch bedrohende und im Medium in ihrer Auswirkung transportierte Ereignisse wie Naturkatastrophen, hungrige Raubtiere, Krieg und Kriegsfolgen oder enthemmter Pöbel in den allermeisten Kontexten als „Hörerlebnis“ bekannt, wenn auch glücklicherweise vielleicht nicht selbst erlitten sind.
Sie also können getrost als Ursache der Bedrohlichkeit ausgeschlossen werden. Wir sprechen hier also in den allermeisten Fällen, und dies muss ausdrücklich betont werden, von Störungen, die keineswegs den Arterhalt gefährden, sondern wohl eher von solchen, deren subjektive Interpretation das Wohlbefinden einzelner, möglicherweise vieler „Hörender“ erheblich beeinträchtigen, aus einem „unschuldigen“ neutralen Naturphänomen durch krude Interpretation ein Klischee individueller zielgerichteter Bedrohung entstehen lassen kann. Wir sprechen von Störungen im Medium, deren Ursache allgemein anerkannt als Errungenschaften der Evolution der Spezies Mensch gelten, konkret von Kultur in deren Ausprägungen Sprache und Musik.
Hier nun sollte folgender Konsens gelten und jegliche Anstrengung zu dessen Etablierung unternommen werden:
Sprache und Musik an sich, also die durch eine respektable Anzahl an konsensbefestigten wissenschaftlichen Definitionen beschriebenen Auslöser entsprechender Störungen im Medium sind a priori weder dem Arterhalt abträglich, noch gefährden sie die körperliche Integrität einzelner Individuen. Die Folgen fehlgeschlagener Interpretationsversuche der durch Sprache und Musik ausgelösten Störungen im Kontinuum des Mediums vermögen dies jedoch sehr wohl.
Darüber hinaus stellt der Zustand der Ruhe im Medium einen Idealzustand dar, der aktuell kaum vorgefunden werden kann, vielmehr ist das Ausmaß der durch die Spezies Mensch im Medium verursachten permanenten Störung in den allermeisten Fällen mindestens genau so hoch, wenn nicht wesentlich höher, als das durch Sprache und Musik hervorgerufene.
Und doch fällt die Reaktion auf erstgenannte Ursache der Störung im Medium im Allgemeinen fatalistisch, lethargisch und erheblich passiver aus, als die auf „kulturbedingte“ Störungen. Dies kann nur bedeuten, dass eine weitgehende Gewöhnung an bestimmte Kategorien von Störungen, und aus ihnen abgeleitete Interpretationen, also deren individuellen Bezug auf die Interpretierenden, die „Hörenden“ eintritt.
Jedoch erfolgt offenbar keine Gewöhnung an durch Sprache und Musik bedingte als Irritation erlebte Störungen, die Bereitschaft, sich solchen auszusetzen, um etwa die Treffsicherheit oder den Variantenreichtum individueller Interpretationsmodelle zu erhöhen, stagniert weiter auf niedrigem Niveau.
Sprache und Musik, also bewusst durch der Spezies Mensch angehörende Individuen erzeugte Klangereignisse, haben seit jeher mein Interesse, meine Neugier und letztlich auch anhaltende Faszination geweckt.
Zuallererst die Sprache, vor allem die Sprache anderer Menschen, und die Vielfalt an Informationen, die ich aus deren Nuancen entnehmen konnte und kann, später die Musik in all ihrer klanglichen Komplexität und noch viel später alle Formen von sogenannten Geräuschen, sei es Verkehrslärm oder die unzählbar unterschiedlichen Texturen von Stille.
Es bedarf eines großen Aufwandes an Zeit, sich der Neugier des Hörens zu widmen, oft sich ihr auch auszusetzen und möglicherweise momentan „unangenehme“ Erfahrungen zu machen, diese zu evaluieren und zu relativieren, und endlich zu einer vertrauten Empfindung werden zu lassen.
Vom Vertrauten, dem Bekannten, also aus der Perspektive meines subjektiven Interpretationsmodells, aus der Perspektive des „Existierenden“, ist in meinem Empfinden nur noch eine Weiterentwicklung denkbar. Nämlich jene, auch un-vertraute, unbekannte und somit bislang inexistente Klänge zu erzeugen und sie dem Medium zuzuführen. Dies nicht als „weitere“ Störung, sondern als Geste des Zurückgebens, als Geste der Dankbarkeit dem Medium gegenüber, das auch mir viel gegeben hat und immer noch gibt.
Dabei spielt es keine Rolle, in welcher Form, in welchen Kategorien dieses Zurückgeben erfolgt. In meinen Werken sind Sprache, Musik und Geräusche gleichrangig. Geräusche sollen die in Sprache transportierten Inhalte nicht illustrieren, Musik nicht artikulierte Emotionen symbolisch doppeln, Text nicht entstehende „Bilder“ prädisponieren, Sprache, Musik und Geräusche nicht stellvertretend für einander agieren.
Meine Intention ist es vielmehr, im Geist Pierre Schaeffers keinen Filmsoundtrack ohne zugrunde gelegte, doch nicht realisierte Bilderwelt samt deren semantischer Konnotationen zu schaffen.
Das Auftreten jeglicher „klanglicher Objekte“ ergibt sich aus der kausalen Logik meines dramatischen Plans, aus der Wechselwirkung aller sonischen Elemente, und nicht aus einem Konzept, das sich auf die „notwendige und naturgegebene“ Existenz von Kategorien und Genres und ihnen immanente Semantiken beruft.
Aus meiner Perspektive scheint es vollkommen unerheblich, ob ein Werk ein „Hörspiel“ ist, eine „Komposition“ in klassisch musikalischem oder im akusmatischen Verständnis, ein Zwischending, oder keines von allem. Auch wenn dies im medialen Kontext vorausgesetzt wie gefordert ist und mangelnde Zuordenbarkeit mit Unverständnis und Ignoranz bestraft wird. Das Werk steht für sich, es ist in seiner Aufführung letztlich nur eine weitere Störung im Kontinuum des Mediums, die in komplexen kognitiven Prozessen interpretiert werden muss, um eine plausible Empfindung zu evozieren.
Aber – es verlangt danach, sich ihm auszusetzen, ihm „zuzuhören“ und dieses „Hören“ so zu erleben, dass die Interpretationsebene der „Zuweisung von Bedeutungen“ zum „Gehörten“ vollkommen ausgeblendet wird und auf die basale Ebene des „Erfassens“ sofort die Ebene der damit entstehenden individuellen Emotion folgt.
Es ist unerheblich für das sogenannte Werkverständnis, was Schöpfer von Klangwerken mit ihren Schöpfungen mitteilen oder ausdrücken wollen, Schöpfer und „Hörende“ nutzen gänzlich andere, individuelle Interpretationsmodelle, die im Prozess ‚Kreativität – Störung des Mediums – Interpretation durch „Hörende“ ‘ keine deckungsgleichen Projektionen auf die ursprüngliche kreative Idee zulassen.
„Hörende“ erleben immer ihre individuelle persönliche und höchst subjektive Interpretation einer bewusst fremdherbeigeführten Störung im Medium als autonome sinnliche Erfahrung. Ihre Entscheidung, sich unbekannten Hörerfahrungen auszusetzen, sollte begrüßt, respektiert und belohnt werden.
Es existieren unzählige Formen von Zahnrädern in allen vorstellbaren Größen und aus allen denkbaren Materialien, darunter eine nicht unbeträchtliche Vielfalt exzentrischer Bauformen.
Ihnen allen gemeinsam ist die Aufgabe, in Räderwerken unterschiedlichste Funktionen auszufüllen.
Ein Räderwerk zu entwerfen und es stetig zu erweitern, ihm immer neue Funktionen und Wirkmechanismen abzugewinnen, und es dabei stets geschmiert und am Laufen zu halten, ist eine erfüllende und beruhigende Tätigkeit.
Gewinnertrophäe des „Glühenden Knopffmikro“ im Rahmen des Berliner Hörspielfestivals 2022
Rainer H. Kremser bei der Preisverleihung zum „Glühenden Knopfmikro“, 13. Berliner Hörspielfestival 2022, 3. September 2022 ca. 0:20.